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Taylor Swift und ich. Seit 2008.

Ein Beitrag zum Themengebiet Anmerken., Hören., Leben., geschrieben am 24. April 2024 von Thomas Lasser

Ich denke seit Wochen über einen Blogpost über Taylor Swift nach. Eigentlich wegen ihrer Megatour, auf der sie gerade um den Globus jagt und dem ganzen Hype der da mitreist. Doch jetzt ist auch noch dieses neue Album da … Man muss wissen: Ich – eigentlich besessen vom Jazz – vergöttere sie. Und zwar seit 2008. Aus vielen guten Gründen. Die mal aufzuschreiben würde aber lange dauern und jemand von der Süddeutschen Zeitung hat das jetzt so gut gemacht, dass ich es nicht mehr machen muss. Auf die Zeilen, fertig, los!

Gekommen, um zu zerstören

Taylor Swift präsentiert in einer ersten Lieferung von „The Tortured Poets Department“ ein schlaues Taylor-Swift-Album – und reicht dann plötzlich noch mal 15 Songs von glühender Größe nach.

Von Joachim Hentschel

Irgendwo auf der Erde war es zwei Uhr morgens, als Taylor Swift an ihrem großen Veröffentlichungs-Freitag die zweite Wagenladung Musik vorbeibrachte, vom Himmel warf oder aus Pandoras Büchse zog. 15 weitere Songs, die nach einem kurzen Instagram-Rundruf auf den Streamingplattformen freigeschaltet wurden. Zusätzlich zu den anderen 16 Stücken, die erst zwei Stunden vorher feierlich erschienen waren. Um sechs Uhr früh deutscher Zeit, als der monatelang tickende Album-Countdown ablief, mit einem tiefen, weltweit hörbaren Seufzen.

Die ersten Rezensionen waren da längst online. Der Rolling Stone hatte „The Tortured Poets Department“ fünf Sterne verliehen, die Höchstwertung, die früher nur für Bob Dylan, U2 oder allerhöchstens Kanye West reserviert war, den Mann, der bekanntlich vor vielen Jahren versuchte, Taylor Swift auf offener Bühne einen Award standrechtlich abzuerkennen. Swifts insgesamt elfte Platte sei ein „bestechend ehrliches Trennungsalbum, mit einigen der zitiertauglichsten Texte ihrer Karriere“, euphorisierte das US-Branchenmagazin Variety. Kurz bevor die Künstlerin dann die zweite Hälfte nachreichte und alle zurück an die Laptops schickte. Die Journalisten, die Fans. Auch die Haterinnen und Hater, die sie damit besonders ärgerte.

Die Frage, implizit und provokant: Wenn euch die erste Stunde meines Albums schon fünf Sterne wert ist, wie viel wollt und könnt ihr für die zweite noch drauflegen? Gut 30 Minuten später, also eigentlich viel zu schnell, tauchten auf der Songtext-Forumseite Genius.com die ersten Deep-Dive-Analysen zu den nachgereichten Liedern auf. Hatte die Fan-Community, die wir hier zur Abwechslung mal nicht pseudo-verniedlichend „Swifties“ nennen wollen, im Schwarmverfahren das Wesentliche zusammengeratzfatzt.

Zum Beispiel: Wer war noch mal Cassandra, von der Swift im gleichnamigen, wirklich atemberaubenden Kerzen-und-Filmorchester-Drama singt, sie habe als Erste sterben müssen, weil sie immer mit dem Schlimmsten rechnete? Muss der Titelheld des kupferschwertraurigen Klavierwalzers „Peter“ nicht unbedingt Peter Pan sein? Der ebenso wenig erwachsen wird wie der verflossene Boyfriend, an den die Erzählerin sich hier erinnert – ein bisschen spöttisch, ein bisschen sentimental. Wie es eben so ist, wenn man mit kurz vor Mitte 30 so umfassend autobiografisch tätig wird.

31 neue Songs, 122 Minuten Musik, ganz oder teilweise auf vier verschiedene CD-Editionen und eine schwer überschaubare Menge verschiedenfarbiger Vinyl-Ausgaben gepresst. Das heißt auch: Noch viel mehr Taylor Swift in einer Zeit, in der sie sowieso schon überall ist. In der, wenn man die Welt als mediale Landschaft erlebt und nicht gerade in einer Offline-Hütte auf dem Hintertuxer Gletscher wohnt, Taylor Swift aus jeder Zuckerdose guckt, sobald man sie öffnet.

Sie bekommt alle Preise derzeit. Verkauft und streamt von allem immer Millionen bis Milliarden, sorgt in Alleinregie für Wirtschaftsaufschwünge und Staatskrisen. Sichert Arbeitsplätze und lässt ihre Musik auf Tiktok hören, obwohl ihre Plattenfirma wegen ausgelaufener Tantiemenverträge eigentlich ein Embargo für ihre gesamte Künstlerriege erlassen hat. Die ernsthafte Überzeugung, Popkönigin Swift, 34, aus Pennsylvania, könne mit ihrer Followerpower als einziger Mensch weltweit die Wiederwahl von Donald Trump stoppen, setzt sich weiter durch.

Dass sie mit dem, was sie eben mit „The Tortured Poets Department“ gemacht hat, möglicherweise ganz neu definiert, was und wie ein Musikalbum sein und aussehen kann, ist daher gar nicht der Punkt. Würde Taylor Swift 2024 eine besonders hübsche Gartenschlauchkollektion auf den Markt bringen und behaupten, das sei ihr neues Album, würde sich auch diese Ansicht durchsetzen. Das Entscheidende ist eher, dass sie – schlicht und tatsächlich – wahnsinnig viel zu sagen hat. Dass Swift, die am Ende ja eher eine Rundum-Influencerin ist als ein klassischer Popstar, ihr Publikum nur selten (ab und zu allerdings schon) mit leeren, selbstreferenziellen Gesten und Affiliate-Links füttert. Sondern es zur Hauptsendezeit mit echten Geschichten, Intertextualitäten, Abschweifungen und weiten Spannungsbögen unterhält. Als raumgreifende Erzählerin, die das Handwerk auf fast schon wieder altmodische Art praktiziert.

Die vielen, vielen Verse, die sie auf diesem Album mit ihrem oft eher an Sprechgesang erinnernden Duktus deklamiert, sind in der Regel prallvoll, bis zur letzten Silbe. Alles, was man hört, scheint strikt um sie herumgebaut zu sein, funktioniert ausschließlich durch ihre Präsenz, ihre narrative Stimme. Natürlich kann einem die Tendenz, mit der Taylor Swift derzeit von vielen zur antikapitalistischen Gesinnungsheldin verklärt wird, auch dann massiv auf die Nerven gehen, wenn man kein Kulturpessimismus-Muffel ist. Dass ein Album wie „The Tortured Poets Department“ nicht weniger als ein weithin gültiges Eichmeter dafür ist, was zeitgenössisches Pop-Songwriting überhaupt leisten kann, kann und muss man trotzdem einräumen.

Daran ändert auch der Umstand nichts, dass Swift und ihre Produzenten Jack Antonoff und Aaron Dessner – besonders in der ersten Stunde – vor allem das in der Vergangenheit erreichte musikalische Plateau verteidigen. Den Ton geben wohltemperierte, sanft schippernde Synthesizer-Vignetten vor, passend zum Thema der zerbrochenen, verfehlten, verdrehten Liebschaften. Ein Hit wie „Anti-Hero“ von 2022 ist hier nicht zu finden, dafür schlagen viele Zeilen umso schärfer zu. „You’re not Dylan Thomas, I’m not Patti Smith“, singt Swift im Titelsong dem Mann zu, der mit ihr zusammen im schnippischen, köstlichen Möchtegern-Bohème-Dramolett das Pärchen spielt. „This ain’t the Chelsea Hotel, we’rе modern idiots.“

Gemeint sei Matthew Healy, Kurzzeitpartner und Sänger der Band The 1975, analysiert der Schwarm. So wie man in ihren Liedern ja mutmaßlich jede Metapher dekodieren kann, in der aktuellen Kollektion mehr denn je. Was Barthes und Derrida in den Sechzigern über den Tod des Autors und der Autorin sagten, gilt für Taylor Swift und ihre autobiografischen Easter-Egg-Chiffren offenbar nicht mehr. Den Poststrukturalismus zugrunde zu richten, sogar das schafft sie ohne fremde Hilfe.

Bis acht Uhr morgens deutscher Zeit war „The Tortured Poets Department“ also ein tiefes, schlaues, teilweise hundsgemeines, in seiner Gesamtaura aber doch eher bloß okayes Pop-Album. Bis Swift dann den Konterpart nachlieferte, die zweite Hälfte mit 15 Stücken. Die Verlängerung der blauen in die dunkelviolette Periode hinein, die ihr durchaus eine neue, bisher Pop-abgeneigte Zuhörerschaft ganz offensiv erschließen könnte. Mit Torch-Songs wie den Liedern über Cassandra und Peter Pan, mit der Indierock-Nachmittagsunterrichts-Miniatur „So High School“ oder dem großartigen, zu Swifts besten Liedern gehörenden „The Albatross“. Hier breitet ihr Gesang endlich wieder ganz die Schwingen aus, auch wenn er – über die Hügel hinweg, weit durch die Ferne – eine süß verbrämte Todesbotschaft bringt. „She’s the albatross“, singt Taylor Swift hier wolken- und wasserklar. „She is here to destroy you.“

Natürlich meint sie sich selbst damit. Es ist sicher kein Zufall, dass die Fleetwood-Mac-Sängerin Stevie Nicks wie eine Schirmherrin über diesem Album schwebt, mit einem von ihr verfassten Gedicht im CD-Heftchen und einer Namenserwähnung im Song „Clara Bow“. Nicks spielte früher gern die Magierin, die als weibliches Rollenmodell konzipierte, nicht immer weißmagisch zaubernde Hexe. Einer zukünftigen Taylor Swift, die sich langsam, aber sicher aus der Erziehungsberechtigung für die Teenagermillionen zurückzieht, könnte dieses Kostüm ähnlich gut stehen.